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Der sozialistische Gang von Joachim Gauck

Ich halte die verstärkte Beschäftigung mit den Alltagsphänomenen für ausgesprochen überfällig. Zehn Jahre habe ich selbst das Thema Stasi bearbeitet. Doch die Aufarbeitung der DDR-Diktatur wird scheitern, wenn wir nur über die Stasi-Gräuel sprechen. Denn bei der Fixierung auf den Geheimdienst kommen wesentliche Bereiche des Lebens in der „sozialistischen“ Gesellschaft nicht vor: weder die führende Rolle der SED noch die differenzierten Anpassungs- und Karrieremuster. Denn die DDR-Bevölkerung ist in großen Teilen geprägt durch ein Angst-Anpassungssyndrom, das keineswegs vom Polizei- und Geheimdienst allein geschaffen war. Wir benötigen deshalb eine zweite Phase der Aufarbeitung.

 

Bei den Vorträgen, die ich in Ost und West halte, stehen Terror und Zersetzung längst nicht mehr im Zentrum. Viel lieber erzähle ich den Menschen, insbesondere den Wessis, wie man ein Ossi wird. Ich erzähle gern von der kleinen Marie, die als Erstklässlerin in die „Jungen Pioniere“ aufgenommen wird - blaues Halstuch, weißes Blüschen, Faltenrock, blaues Käppi, den Pioniergruß „Seid bereit - immer bereit“ stets auf den Lippen. Als Maries Mutter einst nur vorsichtig versucht hatte, das Kind vom Eintritt in die Pionierorganisation abzuhalten, hatte Marie schon angefangen zu weinen. Verständlich, musste sie sich doch fragen, wo sie stehen würde, wenn alle anderen Kinder das Pioniertuch umgelegt kriegen. In der Ecke?

 

So wird Marie dann auch „Thälmannpionier“ in der vierten Klasse. Sie träumt davon, Gruppenratsvorsitzende zu werden,
auch wenn die Mutter vorsichtig mahnt: „Versuch´s lieber als Kassiererin der Pionierbeiträge!“ Marie kann die Lieder, darf beim Fahnenappell auf dem Schulhof für ihre Klasse sprechen, ist wichtiger Teil einer Gemeinschaft und wird bald Mitglied der „FDJ“ sein, des Jugendverbandes, der eine „Kampfreserve“ der Partei ist. Aber das merkt man nicht so auf der Oberschule. Das macht ja die Diktatur aus - man spürt sie nicht in jeder Sekunde.

 

So geht das Leben seinen sozialistischen Gang. Vor den großen Ferien fahren die älteren Schüler hinaus in die Heide - das Schießen und Exerzieren muss eingeübt werden, um die Heimat verteidigen zu können. Dazu müssen auch die akustischen Signale der Wachsamkeit gehören. Jeden Mittwoch um 13 Uhr gehen im Land die Sirenen, keiner kann sie überhören, auch die nicht, die sich heute daran nicht mehr erinnern.

 

(Auszug aus DER SPIEGEL 25/2006
mit freundlicher Genehmigung des Autors)

 

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© Siegfried Wittenburg